Es handelt sich um einen persönlichen Erfahrungsbericht, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit in Bezug auf die in der Klinik angewendete Behandlungsmethode erhebt. Die Erfahrungen sind rein subjektiver Natur, es sollten daraus keine verallgemeinernden Schlüsse gezogen werden.
Ich habe mir überlegt, dass es von Hilfe sein könnte, zu erklären, wie in unserer Klinik in Madrid die Therapie abläuft. Erstmal ist vielleicht interessant zu wissen, dass in Spanien verschiedene Behandlungsansätze nebeneinander existieren, nicht in allen Kliniken verläuft die Behandlung gleich.
In wichtigen Unikliniken in Madrid, Barcelona, Valencia u.a. dominiert seit vielen Jahren ein integraler Behandlungsansatz in der Behandlung von Essstörungen, in dem der Familie, insbesondere den Eltern ab Tag 1 der Behandlung eine wichtige Rolle zukommt. Sie werden von Beginn an zu Co-Therapeuten ausgebildet.
Unsere Klinik in Madrid behandelt ihre Patienten und Patientinnen seit den 90er Jahren nach einem integralen und interdisziplinären Ansatz, der sich aus verschiedenen medizinischen, psychologischen, familiären und sozialen Interventionen zusammensetzt (vgl. Morandé, Graell, Blanco (2014): Trastornos de la Conducta Alimentaria y Obesidad. Un enfoque integral. Editorial Médica Panamericana).
Es wird nicht nach Ursachen geforscht, sondern in der Anfangsphase der Behandlung steht eine Gewichtsstabilisierung nach dem Grundsatz Essen ist Medizin im Mittelpunkt, ohne eine nennenswerte psychologische Behandlung in der WR-Phase (weight restauration).
Wenn Eltern entdecken, dass mit ihrem Kind in Bezug auf das Essverhalten etwas nicht stimmt, dann ist der erste Weg zum Kinderarzt.
In vielen Fällen ist es der Kinderarzt, der das Krankenhaus empfiehlt oder eine Organisation, z.B. Adaner. Man bekommt, je nach Zustand des Kindes, entweder über die Warteliste oder über die Notaufnahme einen Platz.
Je nach Schwere des Falls werden Patienten und Patientinnen entweder stationär oder in das Home Treatment-Programm aufgenommen, tagesklinisch oder ambulant behandelt. Interessant dabei ist, dass ein und dieselbe Klinik alle vier Settings parallel anbietet.
Stationäre Aufnahmen sind, wie ich das beobachten konnte, immer so kurz wie möglich und so lang wie nötig. In unserem Fall waren es knapp 5 Wochen. Während des stationären Aufenthalts geht es v.a. um eine schnelle Gewichtswiederherstellung. Es gibt keine speziellen Therapien. Jüngere Kinder bis 12 Jahren bleiben normalerweise kürzer in stationärer Behandlung und kommen früher in die Tagesklinik, wo sie anfangs alle Mahlzeiten bekommen, aber abends nach Hause dürfen, übernachten und morgens wieder gebracht werden. Schwere Fälle gehen in Anschluss an die stationäre Aufnahme in die Tagesklinik.
Während der ersten fünf Tage ist ein Elternteil 24 Stunden bei den Kindern auf dem Zimmer. Man schläft direkt neben dem Bett seines Kindes. In dieser Zeit ist Ruhen angesagt. Die Kinder bekommen einen weiten Schlafanzug bzw. Jogginganzug an und liegen bis auf die Mahlzeiten in ihrem Bett. Es darf kein Handy benutzt werden und die Kinder erhalten eine Art Tagebuch, in das die Therapeuten jeden Tag ein paar Fragen hineinschreiben. Das ist alles. Kein Lesen, kein Laufen, keine Aktivitäten. Nur ruhen, schreiben und Gespräche mit dem Elternteil.
Normalerweise teilen sich die Kinder das Zimmer mit einer weiteren Person, die schon etwas länger auf der Station ist und alle Abläufe kennt. Es gibt einen gut strukturierten Tagesablauf, wie gesagt, anfänglich ruhen und essen.
In den ersten Tagen erhalten die Kinder Schonkost. Es gibt fünf Mahlzeiten. Drei Hauptmahlzeiten und zwei Zwischenmahlzeiten. Von Anfang an gibt es einen festen Essensplan, der sich wöchentlich wiederholt. Vegetarische Ernährung ist nicht erlaubt.
Alle Kinder essen gemeinsam in einem Essensraum. Dabei läuft Musik und die Essenszeit ist bei Hauptmahlzeiten auf 45 Minuten begrenzt, bei Zwischenmahlzeiten auf 20 Minuten. Es muss alles gegessen werden, was auf dem Teller liegt, selbst Essig- und Öl aus dem Salat-Schüsselchen müssen ausgetrunken werden und beim Apfel darf nur der Stiel übrigbleiben.
Wenn eine Mahlzeit nicht in der dafür vorgesehenen Zeit gegessen wird oder etwas auf dem Teller liegen bleibt, gibt es einen kalorienhaltigen Shake. Es gibt eine Zweiteilung der Station, einen Flur für die "leichteren" Fälle und auf einem anderen Flur liegen die Kinder, die sondiert werden müssen.
Nach fünf Tagen ist das Ruhen vorbei und die Kinder erhalten die Erlaubnis neben den Tagebucheinträgen etwas zu lesen, Musik zu hören, aber alles zeitlich begrenzt. Die Benutzung des Handys ist während der gesamten stationären Behandlung nicht erlaubt. Die Eltern haben tägliche Besuchszeiten, immer nachmittags. Man ruft mittags an und erfährt, wie der Besuch genau aussieht. Je nachdem wie der Tag gelaufen ist, wird mehr Bewegung erlaubt, anfangs sind das fünfminütige Spaziergänge durch die Krankenhausflure, das wird dann nach und nach gesteigert, bis man eine Stunde in den Park darf.
Auch die Kalorienzufuhr wird allmählich hochgesetzt. Zusätzlich zum Essensplan gibt es nach ca. einer Woche morgens, mittags und abends auch noch kalorienhaltige Shakes. Die Anzahl der Shakes ist dann ein bisschen abhängig von der Gewichtszunahme. Jeden Morgen wird blind gewogen. Die Toiletten und Badezimmer sind nach dem Essen abgeschlossen.
Nach ungefähr einer Woche gibt es weitere Aktivitäten anfänglich einmal täglich, später zweimal. Es wird viel mit den Händen gearbeitet und hauptsächlich gebastelt. Wahlweise werden Theateraufführungen oder Konzerte im klinikinternen Veranstaltungssaal besucht, die von ehrenamtlichen Gruppen aufgeführt werden. Im Verlauf der Zeit wird morgens an einigen Stunden der Schulunterricht in den Hauptfächern wieder aufgenommen und von Lehrpersonen begleitet. Am Samstagvormittag gibt es eine leichte sportliche Aktivität für diejenigen, deren Gesundheitszustand es zulässt.
In der ersten Woche werden alle weiteren Untersuchungen durchgeführt, es geht zum Kardiologen, Kinderarzt, Endokrinologen etc.
Parallel zum stationären Aufenthalt gibt es für die Eltern einmal wöchentlich eine Elterntherapiegruppe, in der man sich austauscht und auf die Zeit nach dem Klinikaufenthalt vorbereitet wird. Es werden Grundsätze der Behandlung erklärt sowie das Prinzip Essen ist Medizin, also alles, was man für die poststationäre Zeit wissen muss. Es wird beispielsweise erläutert, welche Probleme im Alltag auftreten können, z.B. worauf man beim Kleiderkauf achten soll, dass die alte toxische Kleidung in die Kleidersammlung gehört und entsorgt wird, bevor das Kind nach Hause kommt, wie der Handygebrauch geregelt wird und vieles mehr. Man lernt, wie man sich verhalten soll, wenn das Kind nicht essen möchte.
Je nach Behandlungsverlauf kann das Kind dann ca. ab der dritten Woche einen Nachmittag mit der Familie verbringen. Man bekommt die Zwischenmahlzeit von der Klinik mit nach Hause. Zum Abendessen wird das Kind wieder in die Klinik gebracht. Bevor das Kind dann eine Nacht nach Hause darf, kommen die Eltern zu einigen Mahlzeiten, normalerweise dem Abendessen, in das Krankenhaus, um die Kinder beim Abendessen auf dem Zimmer zu begleiten. Das ist dann ein Wahnsinnserlebnis, wenn du siehst, wie dein Kind Pommes, Pizza, und Pudding isst und nichts liegen bleibt!!!!!
Dann folgt auch bald der erste Wochenendaufenthalt. Man kocht den vom Krankenhaus vorgegebenen Essenplan und bekommt auch die Shakes mit, falls erforderlich. In der letzten Woche geht es auch stundenweise wieder in die richtige Schule, mittags wieder in die Klinik usw. bis zur Entlassung.
Wenn das Kind entlassen wird, bekommen die Eltern von der Klinik einen sogenannten "Plan de Vida", das ist ein "Alltagsplan", der den Tag strukturiert und vorschreibt, wie lange beispielsweise spazieren gegangen werden darf, welche Aktivitäten unternommen werden dürfen. Der Essensplan vom Krankenhaus wird erstmal beibehalten und in der Anfangszeit wird das Essen von den Betreuungspersonen gewogen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wieviel Nahrung das Kind braucht, um kontinuierlich das Gewicht zu steigern. Es gilt weiterhin nach den Hauptmahlzeiten eine Stunde auszuruhen. In der ersten Zeit bekommen die Kinder je nach Gewichtszunahme neben den fünf Mahlzeiten, abends vor dem Schlafengehen eine Tasse Kakao oder ein Nahrungsergänzungsmittel, das in die Milch eingerührt wird und zur Nachmittagsmahlzeit zusätzlich Nüsse.
Nun beginnt der ambulante Teil der Therapie. Dazu gehören Termine beim Psychiater, falls eine medikamentöse Behandlung fort- oder eingeführt werden muss, beim Kinderarzt, Endokrinologen und Gynäkologen. Einmal wöchentlich trifft sich eine über den Zeitraum eines Jahres in der Regel gleichbleibende Gruppe verschiedener Eltern mit dem behandelnden Psychologen für 2 Stunden, um den Verlauf der Woche, auftretende Probleme oder auch Erfolge zu besprechen. Im Anschluss daran findet die Kinder- bzw. Jugendtherapiegruppe statt.
Die Aufgabe der Eltern zuhause ist es anfänglich nur dafür zu sorgen, dass die Kinder essen und ihren Plan einhalten. Klappt es mit dem Essen nicht, d.h. wird die Medizin verweigert, fährt man in die Klinik, es gibt dort eine 24-stündige Psychiatrische Notaufnahme. Es gibt ein Gespräch mit dem diensthabenden Arzt und je nachdem, welche Menge nicht gegessen wurde, gibt es ein, zwei oder drei Shakes.
Je nach Gewichtszunahme wird in der wöchentlichen Therapie entschieden, welche Aktivitäten im Laufe der Zeit ausgeführt werden dürfen. Die Kinder fragen dazu den Therapeuten, d.h. die Initiative geht von den Kindern aus. Das alles ist in der Anfangszeit sehr erleichternd, da sich die Eltern ausschließlich auf die Ernährung ihrer Kinder konzentrieren müssen und es zuhause keine Diskussionen gibt, wieviel Bewegung und Sport wann und zu welchem Zeitpunkt, da man das mit dem Therapeuten in der Elterngruppe zwar bespricht, die Entscheidung dann aber vom Therapeuten mitgeteilt wird.
In der Elterntherapie wird man im Laufe der Zeit weiter zum Co-Therapeuten ausgebildet, Man tauscht sich unter Anleitung eines Therapeuten mit anderen Eltern aus, hört einander zu und erhält immer wieder Denkanstöße, Literaturempfehlungen und wird in der Phase begleitet, in der es darum geht den Essenplan abzubauen. Das geschieht normalerweise so, dass nach einiger Zeit, das Kind wählt ein "freies Essen" zu haben, d.h. die Eltern kochen an einem Mittag oder Abend eine Mahlzeit, die aus Vorspeise, Hauptspeise, Nachtisch und Brot besteht, aber nicht auf dem Plan steht. Das Essen wird dann nicht gewogen. Die Eltern entscheiden, was gekocht wird. Das Kind darf nur entscheiden ob und wann es ein "freies Essen" haben möchte.
Das Ziel ist es den Plan im Laufe der Zeit langsam abzubauen und die Planmahlzeiten durch sogenannte freie Mahlzeiten zu ersetzen. Das sind dann zwei, drei, vier Mahlzeiten, ein ganzes Wochenende und irgendwann ist der Plan weg. Manchmal, wenn die Gewichtszunahme nicht so verläuft, wie erwartet und das normale Essen nicht gut klappt, wird für einige Zeit wieder auf den Plan zurückgegriffen. Das Gleiche gilt für die Zusatzpräparate wie Shakes. Es kann sein, wenn die Gewichtszunahme stagniert, dass weitere Shakes gegeben werden.
Nach ca. 8-12 Monaten geht es von der Gruppentherapie in die Einzeltherapie, manchmal auch früher, anfangs wöchentlich, dann zweiwöchentlich und so weiter, immer abhängig vom Krankheitsverlauf. Alle weiteren somatischen Untersuchungen finden weiterhin in der Klinik statt.
Nach diesem Zeitraum hat man eigentlich so viel gelernt, dass man als Eltern gut allein klarkommt. Ich bin sehr dankbar dafür, dass unsere Tochter hier so kompetent, konsequent und liebevoll behandelt wurde, inzwischen die Essstörung hinter sich gelassen hat und ein selbstbestimmtes Leben führt. Heilung ist möglich!